Er hatte sich entschlossen, samt Familie und Freunden mit einem ganzen Personenzug unter Volldampf durch den mit Stacheldraht gesicherten Eisernen Vorhang in den Westen zu flüchten. Das Husarenstück des Dampflokführers Harry Deterling ging damals rings um den Globus durch die Presse. Die Flucht bot zudem Stoff für einen überaus spannenden Kinofilm, der nun erstmals in seinem letzten Wohnort Radolfzell zu sehen war. Rund 350 Besucher erlebten in zwei ausverkauften Vorstellungen im Universum-Nostalgiekino den Film „Durchbruch Lok 234“.
Das Ehepaar Ingrid und Harry Deterling lebte von 1979 bis 2010 völlig zurückgezogen und unauffällig in Radolfzell. Dass er als früherer Lokführer ein Stück deutsch-deutsche Geschichte geschrieben hatte, war niemand bekannt. Selbst die Nachbarn wussten nichts über das außergewöhnliche Schicksal dieser Familie. Und dies nicht ohne Grund. Die Deterlings waren viele Jahre auf der Flucht vor den Verfolgungen der Stasi. Mehrere Ortswechsel sollten ihre Spuren verwischen. Sogar die Entführung eines ihrer Kinder hatte die Stasi geplant, um Deterling zur Rückkehr in die DDR zu bewegen. Dort war er in Abwesenheit wegen Republikflucht zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Erst ein Mitarbeiter des SÜDKURIER kam den Ereignissen von 1961 zufällig auf die Spur. Auf einer Reise durch Norddeutschland bekam er einen Bericht über die lange unterbrochenen Bahnverbindungen zwischen Ostberlin und dem Westen in die Hand, in dem der Name Deterling auftauchte – sein Nachbar. Durch seine Recherchen wurde der „Fall Deterling“ auch in Radolfzell bekannt (siehe Zeitungsausschnitt). Harry Deterling verstarb im November 2010 im Alter von 76 Jahren. Seine Witwe lebt seither in Singen.
Der Film „Durchbruch Lok 234“ ist nicht in allen Schilderungen authentisch, doch der Kern entspricht dem Geschehen vor 50 Jahren. Die Szenen gingen vielen Besuchern im Universum nahe, zumal die Betroffenen, Ingrid Deterling mit ihren Söhnen Manfred und Hans-Joachim sowie ihre Schwester Gisela Pausewang unter den Gästen saßen.
Harry Deterling war kein Linientreuer. Er machte aus seiner kritischen Einstellung gegenüber dem DDR-System nie einen Hehl. Seinen Entschluss, der DDR den Rücken zu kehren, fasste er unmittelbar nach dem Mauerbau am 13. August 1961. Er lehnte es ab, die „Zustimmung zu den Maßnahmen des 13. August“ zu unterschreiben. Ihm drohte die Versetzung in ein Arbeitslager, in dem er „umerzogen“ werden sollte. Daraufhin heuchelte er einen Sinneswandel vor und leistete Sonderschichten. Dabei hatte er nur noch seine Flucht im Auge. Am 5. Dezember 1961 war der Tag der Entscheidung gekommen. Mit Familie und Freunden gelang ihm die spektakuläre Flucht mit Volldampf von Oranienburg über Albrechtshof durch die Sperranlagen in den freien Westen.